Arbeitsreich – MPNE-Workshop zur besseren Versorgung von Melanompatienten
Das jährliche Arbeitstreffen des Melanoma Patient Network Europe gab uns auch dieses Jahr wieder den nötigen Schub und die Motivation für unser Engagement für Krebspatienten. Einunddreißig Patienten-Vertreterinnen und -Vertreter aus zwölf Ländern diskutierten z.B. darüber, wie eine echte Beteiligung im Gesundheitswesen aussehen könnte. Erkenntnis: Erfolgreiche Patientenvertretung kann nur gelingen, wenn ohne Hierarchien, parallel und wirklich vernetzt gearbeitet wird.
Was für Patientenvertreter relevant ist
Wie organisiere ich einen Patiententag? Auf welchen Plattformen vernetzen wir uns? Wie komme ich an Informationen, um Patienten optimal zu beraten und zu vertreten? Wie erreichen wir fairen Zugang zu einer wirksamen Therapie? Und als würde das nicht schon einen Wochenend-Workshop füllen, ging es in verschiedenen Sessions mit Experten z.B. auch um Arzneimittelentwicklung und -zulassung und die ökonomischen Mechanismen nationaler Gesundheitssysteme.
Warum ist das MPNE so erfolgreich?
Es funktioniert als ein echtes Netzwerk. Agil und nicht hierarchisch können schnell und simultan Projekte vorangetrieben werden. Ein wichtiges Motto: „Lösungen statt Probleme“. Die europaweite Kooperation der Patientenvertreter funktioniert über besonders engagierte „Hubs“, also Menschen in den einzelnen Ländern, die zur Vernetzung allerdings Englisch sprechen müssen. Sie sind jeweils das Bindeglied zwischen der europäischen Ebene und den nationalen Gruppen und vermitteln wenn nötig aktuelle Informationen und Kontakte.
Die Philosophie des MPNE orientiert sich an modernen Kooperationsmodellen
Das MPNE hat in kurzer Zeit interessante Konferenzen und ein breites Netz des Informationsaustausches und der Unterstützung zustandegebracht, weil es als Netzwerk von Gleichberechtigten arbeitet. Vertrauen, Unabhängigkeit und Eigeninitiative bilden die Basis der Kooperation bei verschiedenen Projekten. Da die Probleme von Melanompatienten in den einzelnen Ländern z.T. unterschiedlich sind, entstehen diese Projekte jeweils angepasst an die dringendsten Bedarfe vor Ort. Bettina Ryll, die Gründerin, nennt ein wichtiges Prinzip: „Wenn Dir etwas am Herzen liegt, dann warte nicht, dass es jemand für Dich umsetzt sondern mache es selbst.“
Arbeitsgruppen und Experten in den eigenen Reihen
In der flachen Hierarchie des MPNE macht es auch keinen Sinn, um gemeinsame Prioritäten zu ringen. Stattdessen gibt es Arbeitsgruppen z.B. für die spezifischen Bedürfnisse von Aderhautmelanom-Patienten oder von Betroffenen aus Osteuropa, die parallel nach Lösungen suchen.
Die einunddreißig Patientenvertreter aus zwölf Ländern bei diesem Treffen brachten auch eine erstaunliche Vielfalt an Qualifikationen mit. So fließen nicht nur unterschiedliche Erfahrungen mit der Erkrankung, sondern aus dem beruflichen Spektrum der Teilnehmenden ein. Von Datenbank-Experten über Molekularbiologinnen, von Unternehmensberatern bis zu Sinologen oder Raumfahrtingenieuren kann man eine Menge lernen.
Daten, Datenschutz, Facebook und Co.
Einer dieser Experten aus unseren eigenen Reihen, Rob White aus England, beleuchtete die komplexen Herausforderungen, die mit dem Thema (Gesundheits-)Daten verbunden sind. Sollen wir uns für ein eigenes Register für Melanompatienten einsetzen? Wie sichern wir die Daten ab? Wo liegen die Daten und wie schützen wir sie? Letztendlich sei das auch eine Kostenfrage.
Ein anderes Problem ist die Vernetzung über Facebook. Einerseits könnte das MPNE niemals so viele Betroffene erreichen, wenn es sich nicht in einer geschlossenen Gruppe bei Facebook austauschen würde. Andererseits bieten aber geschlossene Gruppen dort keine Garantie, dass man anonym bleibt. Das Beispiel ‚Cambridge Analytics‘ dieses Jahr hat gezeigt, dass Firmen über Datenschnittstellen sehr wohl an unsere Facebook-Daten herankommen und diese auch (kommerziell) nutzen.
Letztendlich gehört zur Patientenkompetenz deshalb auch das Wissen über die Chancen und Risiken der Vernetzung im Internet. Wenn ich im Stadium IV verzweifelt nach einer klinischen Studie suche oder nach Erfahrungen anderer Patienten, dann ist mir der Datenschutz vermutlich nicht so wichtig.
Das MPNE sieht seine Ausgabe deshalb auch darin, Patienten zu schulen, wie sie an qualitativ gute Informationen kommen und wie sie soziale Medien nutzen sollten, nämlich bewusst und vorsichtig.
Gesundheitsökonomie – was darf ein Leben kosten?
Dr. Christopher McCabe, renommierter Gesundheitsökonom und Direktor des Institute of Health Economics (IHE) in Alberta, Canada, brachte uns die Logik der Entscheidungen der Kostenträger im Gesundheitswesen näher. Er argumentierte, dass Regierungen entscheiden müssen, wofür sie ihr Gesundheitsbudget ausgeben. Was man an der einen Stelle für Gesundheit einsetze, müsse woanders, also möglicherweise bei einem anderen Patienten eingespart werden.
Einerseits ist es sein Job als Wissenschaftler, solche unbequemen Wahrheiten auszudrücken, andererseits ließ Chris McCabe sehr deutlich seine Sympathie für die Patientenseite der Medaille erkennen. Sein engagierte Mitarbeit und sein Beitrag zum Gelingen des Workshops zu erleben war schon die Teilnahme wert.
Seine Forderung: Bei der Kosten-Nutzen-Bewertung medizinischer Leistungen sollten wir Patienten so früh wie möglich einbezogen sein, denn „Es ist besser, wenn man schon bei der Entwicklung der Fragestellung dabei ist, als wenn man später auf falsche Antworten reagieren muss.“
Zum Argument, die Entwicklung von Medikamenten sei doch eine sehr teure und riskante Sache für die Pharmakonzerne, war seine trockene Bemerkung: „Es ist doch nicht unsere moralische Verpflichtung, schlechte Investitionen der Pharmafirmen abzufedern.“
HTA – Medizintechnik-Folgenabschätzung im europäischen Rahmen
Wenn es um Entscheidungen geht, welche Medikamente oder Verfahren von einem nationalen Gesundheitssystem übernommen werden, spielt die Sicht der Patienten oft nur eine untergeordnete Rolle. Tragfähig sind solche Entscheidungen aber nur, wenn das Erfahrungswissen und auch der Bedarf der Betroffenen angemessen berücksichtigt wird. Viel zu oft entscheiden Länder nach dem Prinzip: „Was bezahlt ihr dafür? Wir wollen weniger bezahlen.“ In Deutschland findet die Patientenbeteiligung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) statt.
Health Technology Assessment (HTA) bzw. Medizintechnik-Folgenabschätzung bezeichnet einen auf wissenschaftlicher Evidenz basierenden Prozess zur systematischen Bewertung von Gesundheitstechnologien, Prozeduren und Hilfsmitteln, aber auch Organisationsstrukturen, in denen medizinische Leistungen erbracht werden. Im Zentrum steht der therapeutische Mehrwert, den eine Gesundheitstechnologie im Vergleich zu anderen neuen oder zu den bestehenden Gesundheitstechnologien bietet. Untersucht wird nach Kriterien wie Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten, jeweils unter Berücksichtigung sozialer, rechtlicher und ethischer Aspekte. (Quelle: Wikipedia)
Seit 2006 koordiniert das EU-Projekt EUnetHTA (European Network for Health Technology Assessment) den HTA-Prozess in vielen europäischen Ländern. Dessen Vertreter Niklas Hedberg stellte die Herausforderungen dar, wenn man einerseits die Bedürfnisse derer, die eine Behandlung benötigen und derer, die auch in Zukunft vom Gesundheitssystem profitieren möchten, abzuwägen habe. Komplizierter wird es noch dadurch, dass wissenschaftliche Evidenz neu bewertet werden müsse, wenn aufgrund der personaliserten Medizin z.B. das Melanom nicht mehr als eine homogene Erkrankung gilt, sondern hunderte Subgruppen haben kann.
Für Melanompatienten gibt es – leider – noch viel zu tun
Igor* aus der Ukraine war zum ersten Mal in Krusenberg dabei. Der junge Mann, er ist im Stadium IV, fand in seinem Land keine guten Onkologen. Als Standard gab es dort nur eine veraltete Chemotherapie. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich im Ausland auf eigene Kosten behandeln zu lassen, die Alternative wäre wahrscheinlich sehr schlimm gewesen.
Ein anderer Fall: Björn* aus Schweden hat ein äußerst seltenes Aderhautmelanom. Obwohl er an einer guten Klinik war, stellten ihm die Ärzte auch nur eine vergleichsweise schlechte Option in Aussicht. Statt ihn zu informieren, dass es eventuell in Schweden oder anderen europäischen Ländern eine klinische Studie zu seiner Erkrankung gäbe, setzte man ihn unter Druck, sofort eine suboptimale Therapie zu beginnen.
Beide Fälle zeigen, dass es leider immer noch die Eigeninitiative der Betroffenen braucht, egal ob sie in einem reichen oder armen Land leben, um die geeignete Behandlung zu sichern. Für Igor und Björn war die Teilnahme an diesem Workshop möglicherweise lebensrettend. Und das ist ein Skandal in einem so hoch entwickelten Europa im Jahr 2018.
*) Namen geändert
Hier der Bericht vom letzten Jahr in Krusenberg
Anne Wispler